Watzmann Ostwand

Watzmann_1 Watzmann Ostwand
Watzmann_2 Rucksack packen am Königssee
Watzmann_3 Martin genießt die Aussicht vom Watzmann
Watzmann_4 Watzmann Ostwand Biwakschachtel
Watzmann_5 Watzmann Überschreitung Richtung Wimbachgries
Watzmann_6 Martin Schmid

Die Watzmann-Ostwand ist die höchste Kalkfelswand der Ostalpen und erhebt sich ca. 1800 m über dem malerischen Königssee. Jeder normale Besucher des Nationalparks Berchtesgaden, der diese majestätische Mauer erblickt, erschaudert bei dem Gedanken, dieses Gemäuer durchsteigen zu müssen.

“Was müssen das für verwegene Burschen gewesen sein, die es schon um 1886 wagten, diese Wand zu durchsteigen?”, schießt es mir durch den Kopf, als ich diese Wand als Jugendlicher zum ersten Mal erblicke. Deshalb beschließe ich im Spätherbst 2007, zusammen mit Reinhold Mayer die Watzmann-Ostwand im Look und im ähnlichen Stil wie der legendäre Kederbacher im 19. Jahrhundert anzugehen. Wolljanker statt Gore-Tex Jacke, Leinenhose statt Softshellhose und ein stahlhartes Rückensystem statt eines komfortablen aircomfort-Rucksacktragesystems.

Da Ende Oktober der reguläre Betrieb der Königsseeschifffahrt eingestellt wird, brauchen wir dringend einen schwimmfähigen Ersatz, der uns nach Sankt Bartholomä bringt. Gott sei Dank erklärt sich der Wirt bereit, uns bei seiner morgendlichen Versorgungsfahrt um 8.30 Uhr mitzunehmen. Als er mich in meinem Aufzug erblickt, begrüßt er uns mit den Worten: “Hey Jungs, s`Oktoberfescht is` aber schoa vorbei…“ Und dann brechen er und sein Küchengehilfe in schallendes Gelächter aus. Leider komme ich nicht dazu, ihnen die Situation zu schildern, da die beiden danach fast die gesamte Überfahrt mit ihrem Handy verbringen. Die Schönheit und die Stille dieses wunderschönen Morgens auf dem Königssee, der umringt ist von Bergen im Gewand des “indian summers”, entgehen ihnen deshalb mit Sicherheit.

In Sankt Bartholomä beginnen wir den ca. einstündigen Zustieg zur nun mächtig aufragenden Watzmann-Ostwand, die bis heute annähernd 100 Tote forderte. Es liegt entweder atemberaubenden Anblick der sich vor uns aufbäumenden Wand oder an der Tatsache, dass wir uns seit Monaten nicht mehr getroffen und gequatscht haben. Jedenfalls lassen die Ruhe dieses wunderschönen Tages und unser Bedürfnis, miteinander über Gott und die Welt zu diskutieren, unseren Puls beim Zustieg nicht gerade in die Höhe schnellen… Mit einem Vertrauen in unsere bergsteigerischen Fähigkeiten und der Gewissheit, dass die Schwierigkeiten dieser Route “peanuts” für uns sind, durchsteigen wir die ersten 500 Meter in diesem geschichtsträchtigen Gemäuer mit einer fast schon arroganten Gelassenheit. Ich denke an Reinhold Messner, der die Frage, ob er die Watzmann-Ostwand zu den “Großen Wänden” zähle, einmal verneinte. In diesem Moment muss ich ihm zustimmen, denn obwohl die ersten 800 Höhenmeter sehr steil und konditionell anspruchsvoll sind, eine Herausforderung für den extremen Felskletterer sind sie definitiv nicht. In diesem ersten Teil der Wand fühlt sich auch ein trittsicherer Bergsteiger, der etwas an alpiner Erfahrung mitbringt, noch wohl. Da uns durch das stetige Steigen eine angenehme Müdigkeit überfällt, setzen wir uns bei einem Altschneefeld ins Geröll, füllen unsere Trinkflaschen auf und genießen einen Ausblick und eine Ruhe, die selbst mit Visa unbezahlbar ist. Nach dieser sehr erholsamen Rast geht es langsam zur Sache: Kletterstellen im zweiten und unteren dritten Schwierigkeitsgrad wollen mit Sicherheit und Eleganz überklettert werden. Eine aufwändige Sicherungskette ist an diesen kurzen Oktobertagen nicht mehr möglich, da sie zu zeitintensiv wäre. Also ist hier allerhöchste Konzentration gefragt, da ein Fehltritt fatale Folgen hätte. An besonders ausgesetzten Stellen haben Bergführer Bohrhaken gesetzt, um ihre Kunden sicher Richtung Biwakschachtel führen zu können. An dieser angekommen, heißt es erst einmal den Rucksack abzunehmen und eine deftige Jause zu genießen. Allmählich schmerzen meine Schultern, obwohl ich den Rucksack, den ich extra für diese Tour in einem Landsberger Antiquariat gekauft habe, anfangs noch unbequemer eingeschätzt habe.

Über uns bäumt sich die “headwall” des Watzmanns nochmal mit aller Macht auf und die letzten 350 Höhenmeter durch die Austiegsrisse scheinen nochmal heikel zu werden. Aufgrund unserer späten Begehung konnte die Sonne den Schnee in dieser Höhe nicht mehr wegschmelzen und die Route ist zunehmend von harten Schneefeldern durchsetzt. Reinhold, ein guter Allrounder in alpinem Gelände, der diese Tour dann doch etwas unterschätzte, bekommt nun mit seinen halbhohen Freizeittretern zwischendurch etwas Nervenflattern und seine anfängliche Hochstimmung wird durch den Sog der Tiefe und die nichtmehr gerade hochsommerlichen Temperaturen etwas gedämpft…So ist nun die anfängliche Leichtigkeit des Seins vom Morgen verflogen, und der alpine Ernst nimmt uns in seinen Bann. Als dann noch etwas Wind aufkommt und Schmelzwasser in den Nacken rinnt, verfluche ich meinen Wolljanker und wünsche mir sehnlichst meine Gorejacke und warme Unterwäsche. Die Sonne hat die Ostwand um diese Jahres- und Tageszeit bereits lange hinter sich gelassen. Doch das soll sich dann bald ändern: Schon auf den letzten Metern zum Südgipfel des Watzmanns erreichen wir wieder die wärmenden Sonnenstrahlen und hasten zum Gipfel. “So, geschafft, Berg Heil”, wir schütteln uns überglücklich die Hände und beratschlagen, welche Variante des Abstiegs wir wählen sollen. Zwei Möglichkeiten stehen zur Debatte: Entweder man hängt an die Watzmann-Ostwand noch die Überschreitung an und steigt dann zum Königssee ab. Oder man wählt den direkten Abstieg von der Südspitze und nimmt den elend langen, aber auch bei Dunkelheit sicheren Weg durchs Wimbachgries. Wir entscheiden uns für die zweite Variante und beginnen unseren malträtierten Waden nun den Rest zu geben. 2000 Höhenmeter Abstieg liegen vor uns, aber wir zögern nicht und fahren, soweit es möglich ist, im losen Geröll in eleganter Manier ab. Mit den weiteren Einzelheiten des Abstiegs will ich den Leser nicht langweilen, nur soviel dazu: Ich kann mir nun vorstellen, wie sich der Held des Buches “Soweit die Füße tragen” gefühlt haben mag. Doch auch dieses Tal mündet irgendwann an einem Gasthof, an dem uns ein Einheimischer aufgabelt und zurück zum Auto am Königssee fährt. Danke an dieser Stelle.

Die genauen Uhrzeiten dieser Odyssee sind meinem Gedächtnis leider entfallen. Ich falle um 3.00 Uhr nachts in mein Bett und bin froh, einen der letzten schönen Tage des Jahres genutzt zu haben, um diese insgesamt außergewöhnliche Tour zu begehen. Zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich den Mut und die Wegfindungsgabe der Erstbegeher überaus bewundere. Durch die gute Literatur und Bergrettung ist die Leistung der heutigen Bergsteiger auch trotz “Retro-Stil” natürlich nicht mit denen der alten Garde vergleichbar.

Bericht von Martin Schmid